Der Fall: Eine Chronologie des behördlichen Versagens
Die Fakten des vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschiedenen Falls (3. April 2025, Beschwerde Nr. 56114/181) lesen sich wie ein Lehrstück darüber, wie fatale Folgen entstehen können, wenn Datenschutz und Schweigepflichten über das Leben gestellt werden.
Sachverhalt
Ein Mann, der 1995 wegen Vergewaltigung und Tötung seiner damaligen Partnerin verurteilt worden war, beginnt nach seiner Freilassung 2006 eine Beziehung mit der Beschwerdeführerin. Diese weiß nichts von seiner strafrechtlichen Vergangenheit.
Aufgrund seines gewalttätigen Verhaltens wendet sich die Beschwerdeführerin verzweifelt an seinen Hausarzt, der die Initiative ergreift und die Polizei informiert.
Die Polizei unternimmt keine offiziellen Schritte, um die Frau über die konkrete, aktenkundige Gefahr zu informieren. Lediglich ein einzelner Polizist gibt den vagen Hinweis, dass sie sich lieber von ihm trennen solle, ohne die zuvor begangenen Straftaten auch nur zu erwähnen.
2007 wird die Beschwerdeführerin Opfer von Entführung, elfstündiger Freiheitsberaubung, Vergewaltigung und schwerster körperlicher Misshandlung durch ihn, nachdem sie die Beziehung beenden wollte.
Die rechtliche Bewertung: EMRK schlägt Datenschutz
Der EGMR stellte in seinem Urteil vom 3. April 2025 klar fest: Die Schweiz hat gegen Artikel 2 EMRK (Recht auf Leben) verstoßen.
Die positive Schutzpflicht des Staates
Der Gerichtshof betonte, dass Staaten nicht nur verpflichtet sind, selbst keine Tötungen vorzunehmen, sondern aktiv das Leben ihrer Bürger zu schützen. Dies gilt insbesondere, wenn:
- den Behörden eine konkrete, unmittelbare Gefahr bekannt ist oder hätte bekannt sein müssen,
- es sich um vulnerable Personen handelt (hier: Opfer häuslicher Gewalt),
- zumutbare Schutzmaßnahmen möglich gewesen wären.
Vulnerable Opfer häuslicher Gewalt
Der EGMR bekräftigte seine ständige Rechtsprechung, dass Opfer von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt besonderen staatlichen Schutz genießen. Dieser umfasst:
- Wirksame Prävention durch Information und Aufklärung
- Schutz vor schweren Verletzungen der persönlichen Integrität
- Proaktives Handeln der Behörden bei bekannten Gefährdungen
Das vernichtende Urteil
Die Behörden hatten in diesem Fall alle notwendigen Informationen vorliegen:
- Verurteilung wegen Tötung einer Partnerin
- Weiteres Verfahren wegen Bedrohung/Nötigung einer anderen Ex-Partnerin
- Aktuelle Hinweise des Hausarztes auf gewalttätiges Verhalten
- Erkennbares Muster von Partnergewalt
Die ethische Dimension: Wenn Datenschutz den Schutz des Lebens überwiegt…
Dieser Fall wirft fundamentale ethische Fragen auf:
1. Das Persönlichkeitsrecht eines verurteilten Gewalttäters vs. das Leben einer potentiellen Gewaltopfers
Datenschutz dient dem Schutz der Persönlichkeit und der Privatsphäre. Strafrechtliche Verurteilungen, insbesondere nach verbüßter Strafe, sind besonders schützenswerte Daten. Der Resozialisierungsgedanke und das Interesse daran sind wichtige Rechtsgüter.
Aber kann das Persönlichkeitsrecht eines bereits mehrfach auffällig gewordenen Gewalttäters schwerer wiegen als das Leben einer konkreten Person und ihre körperliche Unversehrheit sowie Recht auf sexuelle Selbstbestimmung?
2. Die Ausartung des Schutzzwecks
Datenschutz soll Menschen vor Überwachung, Diskriminierung, missbräuchlicher Datenverwendung schützen.
In diesem Fall wurde Datenschutz jedoch zum Hindernis für den Schutz des Opfers. Die Kantonsplizei Luzern argumentierte faktisch damit, dass sie aufgrund des Datenschutzes die Geschädigte nicht informieren durfte.
Ist das schon eine Instrumentalisierung datenschutzrechtlicher Grundsätze, die ihren eigentlichen Zweck ins Gegenteil verkehrt?
3. Information als Existenzbedingung der Selbstbestimmung
Wie kann eine Person informiert über ihr eigenes Risiko entscheiden, wenn ihr entscheidende Informationen vorenthalten werden?
Die Beschwerdeführerin hatte kein faire Chance, sich zu schützen, da sie die Gefahr nicht einschätzen konnte.
Kann das in Deutschland passieren? Die DSGVO-Perspektive
Dazu schauen wir uns einmal die Rechtslage in der DSGVO, den Polizeigesetzen und zur ärztlichen Schweigepflicht an.
1. Grundsatz
Art. 10 DSGVO regelt die Verarbeitung von Daten über strafrechtliche Verurteilungen. Diese darf grundsätzlich nur unter behördlicher Aufsicht erfolgen. Das Bundeszentralregister (§§ 30 ff. BZRG) erfasst Verurteilungen, gibt sie aber nur unter engen Voraussetzungen weiter.
Führungszeugnisse werden nur auf Antrag der betroffenen Person oder bei gesetzlich geregelten Pflichten (z. B. Arbeit mit Kindern) ausgestellt.
2. Mögliche Rechtsgrundlage für die Datenübermittlung
Eine Weitergabe strafrechtlicher Daten an Dritte, wie hier die gefährdete Partnerin, käme möglicherweise nach folgenden Gesetzesvorgaben in Betracht:
„Die Verarbeitung ist rechtmäßig, wenn sie erforderlich ist, um lebenswichtige Interessen der betroffenen Person oder einer anderen natürlichen Person zu schützen.“
Art. 6 Abs. 1 lit. d DSGVO
„Die Verarbeitung personenbezogener Daten sollte ebenfalls als rechtmäßig angesehen werden, wenn sie erforderlich ist, um ein Interesse, das für das Leben der betroffenen Person […] wesentlich ist, zu schützen.“
Erwägungsgrund 46 DSGVO
3. Polizeiliche Befugnisse
Die Polizeigesetze der Länder (z. B. § 8 PolG NRW, Art. 11 BayPAG) ermächtigen zur Gefahrenabwehr, einschließlich der Information gefährdeter Personen, Platzverweise oder Kontaktverbot sowie die Ingewahrsamnahme bei unmittelbarer Gefahr.
Die Polizeidienstvorschriften (PDV) und Leitlinien zur Bekämpfung häuslicher Gewalt betonen ebenfalls die proaktive Gefahrenabwehr.
4. Ärztliche Schweigepflicht – § 203 StGB
Der Hausarzt in diesem Fall hat die Polizei informiert. Das wirft die Frage der Schweigepflicht auf.
§ 203 Abs. 1 Nr. 1 StGB sanktioniert die Verletzung der ärztlichen Schweigepflicht. Aber bei drohender erheblicher Gefahr für Leib oder Leben darf die Schweigepflicht durchbrochen werden. Dies geht aus § 34 StGB zu den Notstandsregelungen hervor. Außerdem gibt es sogar Offenbarungspflichten bei Kenntnis bestimmter Straftaten2.
Man kann grundsätzlich davon ausgehen, dass bei konkreter Gefahr für Leib und Leben Dritter eine Offenbarung zulässig ist.
Deutsche Rechtsprechung zum Opferschutz
Deutsche Gerichte haben wiederholt betont, dass das Recht auf Leben staatliche Schutzpflichten begründet, die auch präventive Maßnahmen umfassen3. Behörden müssen bei erkennbaren Gefährdungslagen aktiv werden und dürfen sich nicht auf formale Hürden zurückziehen. Die Polizei darf und muss potentielle Opfer über konkrete Gefahren informieren, wenn anders kein wirksamer Schutz möglich ist.
Wäre in Deutschland anders gehandelt worden?
Die ernüchternde Antwort: Nicht sicher. Obwohl die Rechtslage in Deutschland ausreichende Handhabe bietet, gibt es erhebliche Defizite in der Praxis:
Behördenmitarbeiter fürchten oft Datenschutzverstöße und dienstrechtliche Konsequenzen, Regressansprüche bei Fehleinschätzungen oder eine mediale Skandalisierung.
Im Zweifel wird in der Folge geschwiegen, selbst wenn Leben oder körperliche Unversehrheit auf dem Spiel steht.
Muss sich was ändern?
Es braucht explizite gesetzliche Vorgaben, dass und unter welchen Voraussetzungen Behörden potentielle Opfer warnen müssen, um den Beschäftigten Sicherheit zu geben und Informationspflichten bei Vorliegen bestimmter Kriterien (z. B. Verurteilung wegen schwerer Gewalt gegen frühere Partner:innen). Eine standardisierte Risikoeinschätzung mit konkreten Schwellenwerten und Dokumentationspflichten für Gefährdungseinschätzungen wären mit Sicherheit ebenfalls sinnvoll.
Die Verhältnismäßigkeitsprüfung muss konsequent zu Ende gedacht werden. Was ist weniger einschneidend?
- Die Information einer gefährdeten Person über die strafrechtliche Vergangenheit ihres Partners (begrenzte Offenbarung spezifischer Daten an konkrete Person)
- Vergewaltigung, schwere Körperverletzung oder Tod (irreversible Verletzung fundamentaler Rechte)
Die Antwort ist offensichtlich.
Datenschutz als Schutz von Menschen – nicht von Daten
Datenschutz ist kein Selbstzweck. Art. 1 Abs. 2 DSGVO formuliert:
„Diese Verordnung schützt die Grundrechte und Grundfreiheiten natürlicher Personen und insbesondere deren Recht auf Schutz personenbezogener Daten.“
Art. 1 Abs. 2 DSGVO
Das Recht auf Datenschutz ist ein Mittel, um andere Grundrechte zu schützen. Dazu gehören Würde, Freiheit und Sicherheit. Wenn Datenschutz zum Hindernis für den Schutz von Leben wird, läuft etwas fundamental falsch.
Fazit
Der Fall N.D. gegen die Schweiz ist ein Weckruf. Er zeigt, dass ein formalistisches Verständnis von Datenschutz Leben kosten kann. Die Rechtslage ist ausreichend, das Problem liegt in der Praxis durch Übervorsicht und Risikoaversion. Diese Punkte führen dazu, dass rechtlich mögliche und gebotene Schutzmaßnahmen unterbleiben. Verhältnismäßigkeit muss ernst genommen werden. Das Persönlichkeitsrecht eines mehrfach gewalttätigen Straftäters kann niemals schwerer wiegen als das Leben einer konkreten gefährdeten Person.
Die eigentliche Frage ist nicht: „Dürfen wir warnen?“
Die Frage muss lauten: „Können wir es verantworten, zu schweigen?“
Nach dem Urteil des EGMR ist die Antwort klar: Nein.
AUTORIN

Sarah Tavcer ist Rechtsanwältin und seit einigen Jahren als externe Datenschutzbeauftragte und Datenschutzberaterin tätig.
- https://hudoc.echr.coe.int/#{%22respondent%22:[%22CHE%22],%22documentcollectionid2%22:[%22GRANDCHAMBER%22,%22CHAMBER%22],%22itemid%22:[%22001-242530%22]} ↩︎
- s. https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__138.html ↩︎
- https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2021/03/rs20210324_1bvr265618.html ↩︎